Europäische Bürgerinitiative: Ein zahnloser Tiger?

Im April startet die Europäische Bürgerinitiative (EBI), die mit dem Vertrag von Lissabon ins Leben gerufen wurde. Die EBI ermöglicht den Bürgerinnen und Bürgern der EU erstmals eine unmittelbare Beteiligung an der Ausgestaltung des europäischen Integrationsprozesses. Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, Präsidiumsmitglied der Europa-Union und Vorsitzende des Landesverbandes Berlin, erläutert in einem Gastbeitrag für die Stiftung Mitarbeit, welche Chancen sich mit der EBI für ein demokratischeres Europa verbinden.

Mit der EBI auf dem Weg zu einem demokratischeren Europa?

Die Europäische Bürgerinitiative: Ein zahnloser Tiger?
von Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann
(Erstveröffentlichung im Newsletter der Stiftung Mitarbeit)

Am 1. April 2012 stehen wir vor einem Durchbruch, und das ist wahrlich kein Aprilscherz: Wir werden eine Weltneuheit erleben und in Europa totales Neuland beschreiten. An diesem Tag wird nach zehn Jahren harten Ringens das erste Instrument transnationaler Bürgerbeteiligung weltweit - die Europäische Bürgerinitiative - Wirklichkeit.

Die Zukunft der EU liegt in einer transnationalen Bürgerbeteiligung

Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) ist eine der wichtigsten Neuerungen der europäischen Politik, die durch das Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon im Dezember 2009 möglich wurde. Die EBI erweitert die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte der Bürgerinnen und Bürger, und sie ermöglicht ihnen erstmals eine unmittelbare Beteiligung an der Ausgestaltung des europäischen Integrationsprozesses, der Europäischen Union. Von daher verbindet sich mit ihr die große Chance, ergebnisorientiert öffentliche Debatten über Europa zu führen, der europäischen Politik neue Impulse zu verleihen und die Zivilgesellschaft zu stärken. Endlich kann ein gravierendes Manko der Gemeinschaft – das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit – überwunden werden.

Europa – das ist Lebensalltag für die in der Europäischen Union lebenden mehr als 500 Millionen Menschen. Löste diese simple Feststellung noch vor nicht allzu langer Zeit mitunter durchaus eine gewisse Verwunderung aus, weil „Brüssel“ vermeintlich als „weit weg“ verortet wurde, dürfte dieses „Weit weg“-Gefühl heute so nicht mehr anzutreffen sein. In diesen Tagen sind die EU und insbesondere unsere Währung, der Euro, in aller Munde. Heftig diskutiert und gestritten wird über Rettungsschirme und Hebel, über Schuldenschnitte oder geordnete Staatsinsolvenzen. Mit der gegenwärtigen Finanz- und Verschuldungskrise durchlebt die Europäische Union zweifellos die schwerste Krise in ihrer über 60jährigen Geschichte. Die eindringliche Mahnung von Bundeskanzlerin Merkel „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ bringt die Dramatik der Lage auf den Punkt.

Es steht außer Zweifel, dass das europäische Einigungsprojekt, das den Menschen auf unserem Kontinent Frieden, Freiheit, Stabilität und auch Wohlstand gebracht hat, nicht zur Disposition gestellt werden darf. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass wir es noch nicht vermochten, eine europäische Sozialunion auf den Weg zu bringen. Es muss alles getan werden, um das europäische Einigungsprojekt zu verteidigen. Hier stehen die politisch Verantwortlichen der EU und in all ihren Mitgliedstaaten in der Pflicht. Ein Weg zurück in die Vergangenheit, in das nationalstaatliche Gegeneinander voriger Jahrhunderte ist in unserer globalisierten Welt von heute keine wirkliche Alternative. Und die Bürgerinnen und Bürger erwarten nicht nur, dass energisch Schlussfolgerungen aus den vielfältigen, gravierenden Fehlern der letzten Jahre gezogen werden, sondern sie erwarten auch zu Recht, dass nicht anonyme Finanzmärkte und Ratingagenturen über ihr Leben und das ihrer Familien entscheiden.

Durch Demokratisierung dem schwindenden Vertrauen in die EU entgegenwirken

Die fortwährende öffentliche Diskussion über die gegenwärtige Krise mag zwar dazu geführt haben, das bislang verbreitete „Weit weg“-Gefühl vieler Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Europäischen Union weitgehend verschwinden zu lassen. Nicht verschwunden ist hingegen das tiefe Misstrauen in die Politik und ihre handelnden Akteure. Es ist – zwar mit unterschiedlicher Ausprägung in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten - im Hinblick auf die Europäische Union latent schon seit vielen Jahren zu beobachten. Doch im Zuge der Krise ist es dramatisch gestiegen, wie Umfragen belegen. Schon im Januar 2011 ging etwa aus einer Repräsentativumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach hervor, dass das Ansehen der Europäischen Union als Ganzes in der Bundesrepublik auf einem historischen Tiefststand angelangt ist. Auf die Frage „Wie viel Vertrauen haben Sie in die Europäische Union?“ hatten in den Jahren 2005 bis zum Frühjahr 2010 noch jeweils etwa die Hälfte der Befragten geantwortet, sie hätten ein „nicht so großes“ oder „kaum, gar kein Vertrauen“, während ein Drittel der Gemeinschaft „sehr großes“ bzw. „großes“ Vertrauen entgegenbrachte. Anfang 2011 jedoch war die Zahl derjenigen, die wenig oder kein Vertrauen in die EU hatten, von 51 auf 63 Prozent angestiegen, und der Anteil derjenigen, die der Union das Vertrauen aussprachen, von 37 auf 26 Prozent zurückgegangen. Man gewinne, so heißt es in einem Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 26.1.2011, „den Eindruck eines Bergsturzes, eines ruckartigen Substanzverlustes, der nicht leicht wieder auszugleichen sein wird.“

Gerade vor dem Hintergrund solch alarmierender Zahlen zeigt heute ein kurzer Blick zurück, wie richtig, unverzichtbar und überfällig es war, dass der Europäische Konvent, der in den Jahren 2002/03 den Vertrag über eine Verfassung für Europa erstritt, die umfassende Demokratisierung der Europäischen Union als die entscheidende Frage für die Zukunft der Europäischen Union ansah. Die Verankerung zahlreicher neuer Bestimmungen zum demokratischen Leben innerhalb der Europäischen Union, insbesondere aber der Idee unmittelbarer Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Ausgestaltung europäischer Politik in Form der „Europäischen Bürgerinitiative“, war alles andere als selbstverständlich und leicht. Der Widerstand gegen ihre Implementierung im damaligen Verfassungsvertrag war enorm, und es ist letztlich dem Engagement einzelner Konventsmitglieder und ihrem engen Zusammenwirken mit verschiedenen Nichtregierungsorganisationen zu verdanken, dass es buchstäblich in letzter Minute gelang, sie schlussendlich in den europäischen Verträgen zu verankern. Ebenso wie der Rat (seit 1957) und das Europäische Parlament (seit 1993) erhielten damit auch die Bürgerinnen und Bürger selbst das Recht, die Europäische Kommission im Rahmen ihrer Befugnisse zur Vorlage eines Rechtsetzungsvorschlags aufzufordern. Sie können so die europäische Agenda über die Teilnahme an Wahlen hinaus erstmals direkt mitgestalten.

Jeder kann sich beteiligen


Die Regeln und Verfahren der Europäischen Bürgerinitiative enthält die im Februar 2011 vom Europäischen Parlament und vom Rat der Europäischen Union verabschiedete Verordnung, die nun endlich, zehn Jahre nach dem Verfassungskonvent, am 1. April 2012 in Kraft tritt.  Danach können 1 Million EU-Bürgerinnen und Bürger aus mindestens sieben Mitgliedstaaten die Europäische Kommission aufrufen, einen Rechtsakt in den Bereichen vorzuschlagen, in denen die EU gemäß den europäischen Verträgen zuständig und die Kommission befugt ist, Gesetzesvorschläge zu unterbreiten. Jeder Staatsangehörige eines EU-Mitgliedlandes, der das für die Wahlen zum Europäischen Parlament erforderliche Mindestalter erreicht hat, kann eine EBI organisieren bzw. per Unterschrift unterstützen.

Für die Organisation einer EBI ist es erforderlich, einen Bürgerausschuss zu bilden, der sich aus mindestens sieben EU-Bürgerinnen und –Bürgern zusammensetzen muss, die Einwohner von mindestens sieben verschiedenen EU-Mitgliedsländern sind. Dieser Bürgerausschuss fungiert als Kontakt- und Ansprechpartner gegenüber der EU-Kommission. Er ist für die Anmeldung der EBI bei der Kommission verantwortlich und auch dafür, dass nach ihrer Registrierung durch die Kommission alle an eine EBI gestellten Anforderungen, wie etwa die Transparenz ihrer Finanzquellen, erfüllt werden. Jede Bürgerinitiative hat zwölf Monate Zeit, um um Unterstützung für das vorgeschlagene europäische Gesetzesprojekt zu werben, und diese kann entweder althergebracht per Unterzeichnung auf Papier oder aber auch auf einem Online-Formular erbracht werden.

Wenn eine EBI erfolgreich ist, also in der vorgegebenen Zeit die erforderliche Zahl an Unterstützungsbekundungen erreicht hat, dann müssen innerhalb von drei Monaten Vertreter der EU-Kommission die Organisatoren der Bürgerinitiative empfangen und ihnen die Gelegenheit geben, die mit ihrer Initiative angesprochenen Anliegen genauer zu erläutern. Sie haben darüber hinaus die Möglichkeit, ihre Initiative bei einer öffentlichen Anhörung im Europäischen Parlament vorzustellen, und die EU-Kommission ist verpflichtet, formell auf die EBI zu antworten und zu begründen, welche Maßnahmen sie beabsichtigt zu ergreifen und die Gründe dafür zu benennen. Diese Antwort der Kommission wird in allen Amtssprachen der EU veröffentlicht. Beschließt die Kommission, als Antwort auf eine EBI einen Rechtsakt vorzuschlagen, dann wird das europäische Gesetzgebungsverfahren in Gang gesetzt.

Europäische Bürgerinitiative als Vorbild für Deutschland

In den letzten Jahren ist in Auseinandersetzung beispielsweise um das Für und Wider des Verfassungsvertrages bzw. des Vertrages von Lissabon viel darüber gestritten worden, ob die Europäische Bürgerinitiative ein wirksames Instrument der Bürgerbeteiligung sein kann oder ob sie ein zahnloser Tiger ist. Klar ist, die EBI ist kein Bürgerentscheid, sie gibt den EU-Bürgerinnen und -Bürgern keine direkte Entscheidungsbefugnis. Es wird sicher noch so einige Zeit vergehen, geduldiger Überzeugungsarbeit mit guten Argumenten sowie harter politischer Auseinandersetzungen bedürfen, bis eines Tages – vielleicht tatsächlich auch Volksabstimmungen bzw. Referenden auf europäischer Ebene möglich werden. Allein, hier in Deutschland ist zurzeit jedoch noch nicht zu erkennen, dass die notwendige Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag zur Änderung des Grundgesetzes in absehbarer Zeit zustande kommen könnte, um den Bürgerinnen und Bürgern auf nationaler Ebene die Möglichkeit einzuräumen, wichtige Sachentscheidungen nach entsprechender Debatte selbst zu treffen. Und von einem Element direkter Demokratie, wie der Bürgerinitiative, das man im Grundgesetz vergeblich sucht, sind wir in Deutschland leider noch weit entfernt.

Von daher sollte jetzt zunächst alles dafür getan werden, damit die Europäische Bürgerinitiative mit Leben erfüllt wird. Dies beginnt damit, das Instrument und seine Möglichkeiten zunächst einmal in allen EU-Mitgliedstaaten bekannt zu machen. Es ist davon auszugehen, dass vielen EU-Bürgerinnen und –Bürgern nach wie vor nicht bekannt ist, dass ihre Stimme in Europa gefragt ist und zählt, dass sich die EU-Institutionen ebenso wie die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten künftig mit ihren Gesetzesvorschlägen auseinandersetzen müssen. Noch wissen wir nicht, ob es in einem Jahr erfolgreiche Bürgerinitiativen mit 1 Million Unterstützungsbekundungen geben wird, welches Thema sie – grenzüberschreitend - in die öffentliche Debatte einbringen und wie die verschiedenen Akteure der europäischen Politik und die Zivilgesellschaft in ihrer Vielfalt damit umgehen werden. Eines aber scheint sicher, egal, worum es sich handeln wird: die Bürgerinitiative wird die Kultur der Debatte verändern, den Blick über den eigenen, nationalen Tellerrand befördern und ihn stärker auf die transnationale, europäische Ebene richten helfen. Sehr viel wird vom Agieren der politisch Verantwortlichen in Brüssel und in den Hauptstädten der EU-Mitgliedstaaten abhängen. Wenn sie lernen, besser zuzuhören, die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger Ernst zu nehmen und – durchaus auch streitig – mit ihnen konstruktiv umzugehen, dann kann die Akzeptanz der Europäischen Union bei den Bürgerinnen und Bürgern wieder steigen. Genau das aber ist es, was die Gemeinschaft für ihre Zukunftsfähigkeit braucht. Sie hat nur dann eine Perspektive, wenn sie von ihren Bürgerinnen und Bürgern akzeptiert, verteidigt und weiterentwickelt wird. Die Europäische Bürgerinitiative kann dabei eine wichtige Rolle spielen.

Über die Autorin:
Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann war 1991 – 1994 Beobachterin, 1999 – 2009 Mitglied sowie 2004 - 2007 Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Als Mitglied des Europäischen Konvents 2002/03 war sie unmittelbar an der Entstehung der Europäischen Bürgerinitiative beteiligt, und unter ihrer Verantwortung als Berichterstatterin hat das Parlament im Mai 2009 die ersten Leitlinien zur rechtlichen Ausgestaltung der Europäischen Bürgerinitiative verabschiedet. Frau Kaufmann ist seit 2009 Mitglied des Präsidiums der Europa-Union Deutschland und seine Sprecherin für die Bürgerinitiative.